Am 01.02.2025
Zufriedenheit
„Sprich doch noch einmal das schöne Gebet,“ sagte sie zu ihm. Er wusste, was sie meinte, obwohl es sich eigentlich nicht um ein Gebet handelte. Als sie sich am Abend zuvor schon einmal bei dem Verstorbenen versammelt hatten, waren die Worte spontan aus ihm herausgeströmt. Er kannte sie vom 2. Februar, vom Fest der Darstellung des Herrn: „Nun lässt du, Herr, deinen Knecht, wie du gesagt hast, in Frieden scheiden. Denn meine Augen haben das Heil gesehen. Ein Licht, das die Heiden erleuchtet und Herrlichkeit für dein Volk Israel.“
Diese Worte aus dem Lukasevangelium hatten in ihr etwas gelöst. Es hatte sie tief verletzt, dass der Großvater nun nicht mehr erleben würde, was aus den Enkeln wird. Es sollte doch noch so viel Leben miteinander geteilt werden. Durfte es jetzt zu Ende sein? Den richtigen Moment gibt es nicht. Dann kamen diese Worte. Ein alter Mann spricht sie. Er sieht Jesus, den seine Eltern als kleines Kind in den Tempel bringen. Sie wollen sich für die Geburt bedanken. Jetzt merkt Simeon – so heißt der Alte, dass für ihn der richtige Moment gekommen ist. Jetzt haben seine Augen das Heil gesehen. Jetzt kann er in Frieden scheiden. Jetzt ist alles da. Zufriedenheit.
Als sie vor dem Verstorbenen standen, wurde es ihr plötzlich bewusst: es ging nicht um ihre Zufriedenheit. Es ging um seine. Er war zufrieden. Es durfte sein Moment sein. Er hatte ja ebenfalls das Licht gesehen. Er hatte so viel Liebe im Leben erfahren. Er durfte in Frieden scheiden.
Als sie den Raum verließen, war die Trauer immer noch da. Daneben gab es aber nun dieses andere Gefühl: Zufriedenheit. Man kann es eigentlich häufiger im Leben brauchen, dachte sie. Nicht nur, wenn jemand stirbt. Ehrgeiz und Perfektionismus sind zwar gut. Aber Zufriedenheit löst die Falten im Gesicht. Sie würde jetzt besser Abschied nehmen können. Auch ihre Augen hatten das Heil gesehen.